30.06.2017

Wenn Maschinen Menschen abschalten

Das Handwerk – Gegenentwurf und Voraussetzung für Industrie 4.0

1. Die Effizienz
Die Triebfeder für „Industrie 4.0“ ist möglicherweise sehr simpel. Es geht um die Effizienzsteigerung industrieller Produktionsabläufe und den damit verbundenen Kostensenkungen. Intelligente Maschinen werden künftig den Produktionsablauf einschließlich der Kostenstrukturen „im Blick“ haben. Sie können in ihrem Produktionsbereich mehr oder weniger autonom Entscheidungen treffen – zum Beispiel bei der Frage, wie mit der Produktion fortgefahren werden soll, wenn es zu Störungen kommt, die die Effizienz in Frage stellen. Möglicherweise werden die Maschinen irgendwann feststellen, dass der Mensch die Effizienz behindert und er ausgeschaltet werden muss.

2. Sexy
Inzwischen könnte man den Eindruck gewinnen, dass das Schlagwort von der Industrie 4.0 in erster Linie unter Marketinggesichtspunkten erfunden wurde. Es scheint sich inzwischen verselbständigt zu haben. Es gilt das Motto des preisgekrönten Werbespots von Charles Wilp aus dem Jahr 1968: „Super-sexy-mini-flower-pop-op-cola – Alles ist in afri-cola“. Jetzt ist plötzlich alles 4.0: Industrie, Handwerk, Wirtschaft, Hammer, Bildung, Schule – nur eben nicht so sexy wie in dem Videoclip von Charles Wilp.

3. Die Individualität
Ist das Handwerk eigentlich außen vor, wenn von Industrie 4.0 gesprochen wird? Ist es nur noch der Wurmfortsatz industrieller Komplexe und setzt das um, was in Thinktanks ausgedacht und in Marketingabteilungen sprachgewaltig aufbereitet wird? Oder wird sogar das, was „das Handwerk“ ausmacht – nämlich der meisterlich befähigte Inhaber, der individuelle Aufträge mit qualifizierten Facharbeitern erledigt – gänzlich in Frage gestellt?

4. Die Versionierung
Warum Industrie 4.0? Wenn die wirklich echten EDV-Freaks Software entwickeln, dann erreicht sie eigentlich nie die Version 1.0. Das soll aber nicht heißen, dass diese Software nicht eingesetzt werden kann. Im Gegenteil. Ausgedrückt werden soll damit vielmehr, dass die Entwicklung zwar bereits weit fortgeschritten ist, sie aber noch nicht das von den Entwicklern gesteckte Ziel erreicht hat – meint Wikipedia.

Das ist dann vergleichbar der Situation, als wollten wir im Jahr 2016 n. Chr. sagen, dass das Universum im Angesicht der Unendlichkeit – es soll aufgrund von Präzisionsmessungen durch das Weltraumteleskop Planck 13,80 ± 0,04 Milliarden Jahre alt sein – erst bei Version 0.0154 angelangt ist. Wobei auch das für einen „Nerd“ natürlich nur ein Schätzwert sein kann und die nächste Version dann vermutlich 0.015401 heißen wird.

Unter Marketinggesichtspunkten hört es sich für ein kommerziell arbeitendes Softwareunternehmen natürlich nicht wirklich gut an, wenn eine Anwendung auf den Markt gebracht werden soll, die den Eindruck vermittelt, sie sei noch nicht zu Ende entwickelt. Vermarkten lässt sich dann schon eher, wenn die Software als Version 4.0 mit vielen neuen Errungenschaften im Vergleich zu Version 3.0 in den Handel gebracht wird, weil damit – immer unter Marketinggesichtspunkten gedacht – sowohl eine gewisse Kontinuität als auch Zukunftserwartungen vermittelt werden.

5. „Die verstehen ihr Handwerk“
Nun mag man sich fragen, was Handwerker mit Software-Entwicklern zu tun haben – auch wenn der Begriff „Softwareschmiede“ durchaus gängig ist. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett, einer der Berater von Barack Obama, sagte in seiner Rede anlässlich der Verleihung des europäischen Handwerkspreises:

„So haben wir also Programmierer und Mitarbeiter in Biotechnologie-Laboren befragt. Das erste, was uns überraschte war, dass sie sich alle als ‚Handwerker’ verstanden (…). Ein Computerfachmann sagte mir: „Wenn ich Computercode schreibe, dann betrachte ich die Zeilen genauso wie ein Tischler die Maserung des Holzes untersucht.“

6. Die Problemlöser
Handwerker sind Problemlöser. Welche Probleme lösen sie im Zusammenhang mit „Industrie 4.0“? Die 4. industrielle Revolution ist natürlich deutlich mehr als reine Digitalisierung, mehr als nur ein optimal schnelles Breitbandnetz. Das ist eine Grundvoraussetzung, eine Selbstverständlichkeit, die allerdings längst nicht in allen Regionen gegeben und daher rasch und umfassend zu schaffen ist.

Eines ist „4.0“ aber ganz sicher nicht: ein statischer Vorgang, der heute noch nicht war und morgen plötzlich beginnt. Es ist ein dynamischer Prozess, der im Bereich der handwerklichen, feinwerktechnischen Zulieferer und Prototypen-Modellbauer längst im Gange ist und ihnen völlig neue Formen der Produktion sowie der Kooperation und Kommunikation mit industriellen Auftraggebern abverlangt. Und der den Handwerkern im Übrigen Phantasie und Können abfordert, um die Praxistauglichkeit der gewünschten Maschinen und Produktionsstraßen zu gewährleisten – wie einst übrigens bei der Herstellung der Dampfmaschinen (Industrie 1.0), der mechanischen Umsetzung der Fließbänder und dazu gehörigen Elektroinstallationen (Industrie 2.0) sowie dem Bau der „Datenautobahnen“ für die Digitalisierung (Industrie 3.0).

7. Die Risiken
Wie groß sind die Chancen, wie groß die Risiken für einzelne Handwerke bei dieser Entwicklung? Welche Auswirkungen wird zum Beispiel die 3-D-Drucker-Technologie haben? Welche die sogenannte „Losgröße 1“, die Industriebetrieben über die serielle Gleichteileproduktion hinaus auch die Herstellung eines einzigen individualtechnisch gefertigten Maßproduktes ermöglichen wird? Das war schließlich bislang Domäne handwerklicher Spezialbetriebe.

Neue Fertigungstechniken werden also bisherige Strukturen in Frage stellen und diejenigen Handwerksbetriebe vor große Herausforderungen, die sich auf Sonder- oder Einzelanfertigungen spezialisiert hatten. Andererseits wird Handwerksbetrieben in den Fertigungsprozessen einiges er-leichtert werden – aber gleichzeitig wird die Frage nach der noch bestehenden Handwerkseigenschaft der Produktionsweise aufgeworfen.

8. Die Dynamik
Ist es wirklich noch Handwerk, wenn der mit dem Internet verbundene Brezelbackroboter einer großen Bäckerei, der aus den Filialen direkte Bedarfsmeldungen (Größe der Brezel, salzig oder weniger salzig) bekommt und – ebenfalls per Datenfernübertragung – die richtigen Mengen für den Teig abfordert, dann selbst mixt und die fertig geschlungenen Brezeln direkt auf dem Förderband in den Ofen schiebt?

Nicht zuletzt um solche Entwicklungen mit einzubeziehen gibt es den „dynamischen Handwerks-begriff“: Der Einsatz von High-Tech-Maschinen zur individuellen Fertigung ändert nämlich nichts an der individualtechnischen und somit handwerklichen Produktion. Das ist eben „High-Tech-Handwerk“.

Das Handwerk wird – und das ist sicher – mit und nach Industrie 4.0 nicht nur romantisches Erinnerungssprengsel wie der Tante-Emma-Laden im Ramschladen der Geschichte sein, sondern eine praxisorientierte, treibende Kraft bei allen innovativen Prozessen. Und wird vielleicht gerade dann zum Zuge kommen, wenn die Maschinen die Menschen abschalten wollen.